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Reisen per Zug. Ein Selbstversuch.
Bahnreisen - eine einzige große Realsatire.





Vorsicht an der Bahnsteigkante

Jedesmal nehme ich es mir wieder vor... ein Auto zu kaufen. Doch dann hat doch wieder das ökologische (und finanzielle) Gewissen gesiegt und selbiges beruhigt. Aber wenn die nächste  innerdeutsche Fernreise ansteht, dann holt mich die Realität wieder ein: ich stehe am Bahnhof und zugleich am Rande des Nervenzusammenbruchs. "Wir wünschen eine angenehme Reise..." (vielleicht machen Sie sich vorm Weiterlesen erst noch eine Thermoskanne Tee - die Fahrt wird länger):



Schalter-Nahkampf

Smiley mit Lautsprechern diesen Artikel als Podcast hören
Eine letzte Warnung, bevor man sich ins Unvermeidliche begibt, erhält man noch vor Reiseantritt: Am Fahrkartenschalter. Natürlich nur, sofern man noch einen findet. Denn in den kleineren Bahnhöfen hat man verbliebenes Personal wegrationalisiert und selbst in Metropolen geht man dazu über, leibhaftige Fahrkartenverkäufer durch elektronische Alternativen zu ersetzen. Alternativen, die sich zwar immer komfortabler bedienen lassen, nicht ganz so gelangweilt aussehen und schon fast intuitiv zum ersehnten Fahrschein verhelfen (inzwischen kann man an DB-Automaten seinen Zielbahnhof sogar schon an einer simulierten Tastatur eintippen, wohingegen man früher recht unergonomisch nach Anfangsbuchstaben und Wortbestandteilen stochern durfte - wer schon mal aus einer Großstadt zu einem Provinzbahnhof wollte, weiß, was ich meine) die sich nach einer viertelstündigen Odyssee in tausenden von Auswahlmenüs im entscheidenden Moment aber standhaft weigern, eine beliebige EC- oder Kreditkarte zu akzeptieren (nein, "EC" steht hier nicht für "EuroCity" - vielleicht ist das der Fehler). Interessanterweise haben die Kartenlesegeräte am klassischen Schalter nie Probleme bei der Kartenakzeptanz.

Nun gut; auch aus diesem Grund ab zum Fahrkartenschalter: Zwei Dutzend Schalter gibt es, fünf davon sind geöffnet und dort stehen jeweils bis zu 10 Personen an. Ich habe natürlich mal wieder genau den erwischt, wo jemand vor mir unbedingt die Erstattung der Differenz seines Nahverkehrsscheins begehrt (weil er für das Ticket 7 Euro zahlte, aber nur für 5 Euro gefahren ist) und sich die Schalterdame dem Umtauschwunsch verweigert, stattdessen sogar noch 50 Euro nachkassieren möchte, weil der nette Kunde, wie sich jetzt herausstellt, einen Kinderfahrschein benutzt hat, sein Fehlverhalten aber partout nicht einsehen will, und, noch schlimmer, nicht mal das "erhöhte Beförderungsentgelt" entrichten möchte, sondern lieber mit Schlägen droht und sich nun auch noch zwei Herren vom Sicherheitspersonal in der Schlange vordrängeln. Ich bleibe höflich und lasse ihnen den Vortritt - ich kann nachfühlen, wie unangenehm Warten sein kann. Aber man selbst hat ja Zeit.


Bahnschienen


Nun bin ich an die erste Stelle gerückt. Der Kunde möchte vom Berliner "Bahnhof Zoo" nach Heidelberg Hauptbahnhof, drei Tage später zurück, dann allerdings mit einer eintägigen Unterbrechung in Bantorf (bei Hannover). In der Vergangenheit kein Problem, doch wie sollte es anders sein: (Schalterdame:) "Ich kann Ihnen leider keine Fahrkarte für den Verkehrsverbund Hannover ausstellen!" (Kunde:) "Sollen Sie auch gar nicht, ich möchte direkt von Heidelberg nach Bantorf." (Schalterdame:) "Geht nicht!"

Letzten Endes und nach weiteren erfolglosen Versuchen eines unkomplizierten Fahrkartenerwerbs geht's dann plötzlich doch, allerdings nur mit erheblich improvisierendem Organisationstalent: Statt einem Fahrschein halte ich nun für die gesamte Fahrt insgesamt drei in der Hand - und inklusive aller Platzkarten und Verbindungspläne würde sich schon ein kleines Aktenordnerchen für das Kartensammelsurium lohnen, das der Kunde schließlich zu verstauen hat (die Ordner könnte man dann ja auch wieder schön mit Werbung für Kopfschmerztabletten bedrucken - warum wohl ausgerechnet ein Pharmakonzern auf den Reiseunterlagen der Bahn wirbt...?). Das nächste Mal (nächstes Mal?! *hysterisches Lachen*) kauft der Kunde sein Billet allerdings beim Zugbegleiter persönlich - die Zeit dafür geht dann wenigstens nicht von der Freizeit ab.



Etappe 1:  Berlin - Heidelberg


Berlin-Heidelberg Die Hinfahrt verläuft erstaunlicherweise problemlos - aber wohl auch nur, weil ICE 873 von Berlin nach Mannheim durchgehend fährt und der Anschlusszug nach Heidelberg dort ebenfalls 10 Minuten Verspätung hat. So ein Zufall.
Zugverbindungen an sich sind sowieso ein Phänomen. Die Computer der Bahn berechnen die Reiserouten meistens nach der zeitlich vorteilhaftesten Verbindung. Dabei mussten sich die Programmierer offenbar auf einen Kompromiss einigen, über den die meisten Bahnkunden immer wieder nur den Kopf schütteln können: die Zeitspannen für Umsteigezeiten. Jeder, der auf Gleis 2 ankam und für das Erreichen seines Anschlusszuges auf Gleis 38 noch genau 6 Minuten hatte, weiß vielleicht, was ich meine. Wer wegen Verspätung nur noch 2 Minuten hatte, weiß ganz bestimmt, was ich meine.

Ich muss die knapp fünfstündige Fahrt nicht einmal im Stehen im Gang vor den Toiletten verbringen - wie einige Wochen zuvor, weil man mit Gepäck einfach nicht mehr zu einem Sitzplatz durchkam. Wie habe ich gelacht, als ich in der mitgenommenen Zeitschrift eine Anzeige der Deutschen Bahn entdeckte, in der ein Büromensch angenehm arbeitend ICE fährt. Ich stellte mir bildlich vor, was die "Um-Stehenden" wohl gesagt hätten, wenn ich auf den 20 Zentimetern Standfläche mein Laptop ausgepackt und nach einer Steckdose gesucht hätte...



Etappe 2:  Heidelberg - Frankfurt

Heidelberg-Frankfurt Heidelberg Hbf. Es ist der 3. Advent. Ich bin eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges im Bahnhof, denke aber zwischenzeitlich, dass ich es nicht mehr rechtzeitig zum richtigen Gleis schaffen werde, da sich eine komplette Blaskapelle genau vor den Durchgängen zu den Bahnsteigen aufgebaut hat, deren weihnachtliche Klänge Trauben von Menschen anziehen, die den restlichen Bahnhofsbereich blockieren. Zusammen mit einer Reisetasche, einem Rucksack und einer Mediamarkttüte scheint kein Durchkommen möglich. Trotzdem schaffe ich es irgendwie ohne große Verluste, und stehe nun am Bahnsteig 9 und warte laut Plan noch 15 Minuten auf den InterCity 2096, der mich zwecks Umsteigemöglichkeit nach Frankfurt/Main bringen soll. Doch bevor der Zug einfährt, spricht mich noch ein netter Herr aus Sri Lanka an, der von mir wissen möchte, wie er nach Bonn kommt. Eigentlich sollte er schon dort sein, hat aber in Heidelberg seinen Anschlusszug verpasst. Nun hat man ihm am "Service-Point" (ob Engländer wohl verstehen würden, was das bedeutet?) einen alternativen Verbindungsplan ausgedruckt und in die Hand gedrückt - aber wohl nicht mitbekommen, dass der Herr des Lesens nicht mächtig ist. Nun steht er etwas hilflos neben mir und kann die Bahnhöfe und Zeitangaben auf seinem Zettel nicht interpretieren. Ich frage mich, wie sie es an der Information wohl geschafft haben, ihn loszuwerden. Er wird noch zweimal umsteigen müssen.

Der Zug fährt - pünktlich, was erwarten Sie? - ein. Normalerweise kaufe ich keine Platzkarten (erst recht nicht mehr seit der missglückten Bahnpreisreform, als man auf eine bestimmte Zugverbindung festgelegt wurde, aber den Sitzplatz trotzdem noch extra bezahlen durfte), da ich ansonsten für Plätze in ohnehin leeren Waggons reserviere. Da ich aber diesmal längere Strecken an einem Wochenende fahre, hat sich die Investition gelohnt. Anderfalls könnte ich nun auch nicht berichten, dass diesmal "mein" Sitzplatz an einem Vierer-Tisch schon besetzt war. Die anderen drei Plätze waren frei und unreserviert - aber auf meinem sitzt natürlich eine junge Mutter, die ihr Kind am Nachbartisch beim Spielen mit einem Altersgenossen nicht aus den Augen lässt. Ich bin höflich und nehme den nächsten freien Platz. Wieder umsonst bezahlt.

Dafür lässt sich auch sogleich ein interessantes soziokulturelles Phänomen beobachten: Bahnfahren mit Kleinkindern. Früher, in den 80er Jahren, gab es in den Intercitys teilweise richtige "Spielabteile", in denen sich die mitreisenden Kinder auf Plastikrutschen und Turnmatten austoben konnten (ich habe einst einen Selbstversuch auf der Strecke Berchtesgaden-Hamburg absolviert), während die Eltern entspannt einen Kaffee im Zugrestaurant tranken. Diese Abteile sind längst in Vergessenheit geraten und die Zugrestaurants hat man vorübergehend durch Bordbistros ersetzt (für einen Steh-Kaffee reicht das wohl noch) - aber heutzutage dürfen sich die lieben Kleinen gesittet am Sitzplatz beschäftigen. Das Resultat sieht man am Geschäftsmann (ich muss unwillkürlich wieder an die Zeitungsanzeige denken, in der der Managertyp so überzeugt-zufrieden in die Kamera lächelt), der mit Kopfhörern bewaffnet angestrengt-konzentriert versucht, einen vernünftigen Satz in sein Notebook zu tippen, während zwei ihm gegenübersitzende, kreischende Dreieinhalbjährige gerade den passenden Sound zu ihren Matchbox-Autos produzieren (eine Szene, in der die Feuerwehr eine in Brand geratene Massenkarambolage löscht).

Interessant daran ist besonders, wie die zugehörige Mutter, wohl in einem Anflug von gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein, erfolglos versucht, ihren Kleinen zur Lautstärkereduzierung anzuhalten. Doch die ständigen "pschssst!" beeindrucken den Störer herzlich wenig; er ignoriert die blumige Aufforderung zum Stillsein geflissentlich. Außer besagtem Geschäftsmann stört sich ohnehin wohl niemand daran, wenn die Kinder in den Gängen auf- und abrennen. Was die Mutter nicht davon abhält, ihre nichtsfruchtenden "pschssst!"-Laute in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, wenn das schrille Gekreische mal wieder überhand nimmt (wenn die Feuerwehr zu spät kam und der Fahrer eines Matchboxautos gerade in den Flammen verbrennt). Kinder können so grausam sein.

Eine knappe Stunde Feuerwehrseinsatz später erreichen wir Frankfurt am Main. Pünktlich - was erwarten Sie?



Etappe 3:  Frankfurt - Hannover

Frankfurt-Hannover Frankfurt/Main, Hbf. Die schmalen Bahnsteige quellen über. Mit dem immer noch sauschweren Gepäck kämpfe ich mich im typischen Sackbahnhof zur Hauptplattform durch, um mich von dort zum nächsten Gleis zu kämpfen - um dann dort festzustellen, dass es auch unterirdische Querverbindungen zwischen den Gleisen gibt. Statt einer riesigen Kurve hätte ich nur unter einem Gleis durchlaufen müssen. Einen Dank an die vortreffliche Beschilderung. Nun warte ich am Gleis auf den ICE 70 nach Hamburg, den ich dann in Hannover verlassen möchte. Kaum habe ich mir einen netten Warteplatz zum Stehen gesucht, wechselt die Schrift auf den Anzeigetafeln - und die Schulbetriebspraktikantin am Lautsprecher braucht 5 Minuten mit Unterbrechungen, um zu verlesen, dass genau dieser Zug heute ausnahmsweise [das ist die Stelle, an der der halbe Bahnsteig in höhnisches Gelächter ausbricht] 10 Minuten später eintrifft. Was sind schon 10 Minuten, denke ich, aber auch die Anschlusszüge warten nicht und die klirrende Abendkälte ist eisig.

In diesem Moment läuft die Mutter mit dem Feuerwehr-Kind aus Intercity 2096 an mir vorbei, die offensichtlich auch Richtung Hamburg will und wohl auch die Unterführungstunnel nicht gefunden hat. Wie nett, dann wird die Fahrt zumindest für einen Waggon während der Fahrt nicht langweilig (die Feuerwehr wird bestimmt noch einiges zu löschen haben).

Die Anzeigetafel rotiert schon wieder und die Lautsprecherstimme verkündet, dass der Zug heute nicht auf diesem Gleis [das ist die Stelle, an der der halbe Bahnsteig erstmal sein Gepäck wutschnaubend durch die Gegend tritt], sondern am selben Bahnsteig gegenüber [erleichtertes Aufatmen und Gepäckwiedereinsammeln] hält. Tatsächlich fährt ICE 70 exakt 9,2 Minuten später auf dem Nachbargleis ein.

Der Sitzplatz ist diesmal unbelegt, dafür sind alle anderen Plätze gerammelt voll. Ich quetsche mich ans Fenster und genieße die Fahrt. Soweit das möglich ist. Hielten sich die Zugteams bisher wohltuend zurück, scheint das hiesige Bordpersonal diese Lücke wieder auffüllen zu wollen. Es beginnt mit wiederholten Hinweisen noch im Bahnhof, dass es sich hier wirklich um den ICE 70 handele und nicht um den, der normalerweise um 17.58 Uhr auf Gleis 10 hält. Wenig später dann die Werbebotschaft, dass das Bordrestaurantteam sich auf unseren Besuch freue und leckere Menüs und Getränke bereithalte - ach. Für die Wenigerbetuchten folgt die Nachricht, dass vor kurzem ein Brezelverkäufer zugestiegen sei, der nun durch den Zug laufe, um "frisches Backwerk" an den Mann zu bringen. Wie man angesichts übervoller Züge den Begriff "frisch" definiert, möchte ich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr wissen. Von einem Brezelverkäufer ist die Fahrt über dann auch tatsächlich keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich haben ihn sich belästigt fühlende Bahnreisende in eine Toilette gesperrt. Nein, doch nicht. Unser freundlicher Zugchef meldet mit schwäbischem Akzent über den Lautsprecher, dass der Zug heute außerplanmäßig das nächste Mal in Fulda hält. Man hat also offenbar den Schaffner bestochen, der nun den Brezelverkäufer rauswirft.

Apropos Fulda. Hier ist man immer noch in den 50er Jahren stehengeblieben. Der Bahnsteiglautsprecher weist uns bei der Abfahrt tatsächlich darauf hin, dass die Türen des Zuges "selbsttätig schließen". Dass sich die Bahn nur langsam von ihrem alten Behördenvokabular trennt, ist bekannt (und wenn, dann übertreibt sie gleich wieder, indem sie die Bahnhofstoiletten "McClean" nennt und die Information "ServicePoint", aber das hatten wir schon). Dass es heutzutage überhaupt noch Züge gibt, für die der alte Bahnhofstandardspruch "Türen schließen selbsttätig" noch Bedeutung haben könnte, fällt schon schwer, aber sich einen ICE vorzustellen, bei dem sich die Türen nicht automatisch schließen, sondern der Schaffner nach jedem Halt einmal den Zug rauf und runter läuft... wow!

Die Freude über den Verlust des Brezelverkäufers ist allerdings nur von kurzer Dauer, denn schon naht das hauseigene Servicepersonal: der "Am-Platz-Verkäufer" bahnt sich mit seinem Wägelchen und mitleidserregenden "Kafffffeeeee...?!"-Rufen durch die Gänge. Hier war früher ausnahmsweise mal wieder alles besser: in vergangenen Zeiten schob man richtige kleine Minibars durch die Züge, die neben Instant-Kaffee auch heiße Würstchen, allerlei Knabberkram und diverse Getränke im Angebot hatten. Mehr gekauft wurde damals vermutlich nicht, aber wenigstens kam der Verkäufer mit dem größeren, sperrigen Vehikel nicht mehr durch den Zug, wenn zuviele Leute im Gang standen. Heute bestehen die mobilen Verkaufsstände nur noch aus einer überdimensionierten Thermoskanne mit Rollen. Dafür haben die Verkäufer die Preisliste nun auf der Rückseite ihrer T-Shirts aufgedruckt - entwürdigend, aber cool.

Irgendwann erreichen wir Hannover. Pünktlich - was erwarten Sie? Die abschließende S-Bahn-Fahrt nach Bantorf bleibt ohne Überraschungen - niemand will mir etwas verkaufen.



Etappe 4:  Hannover - Berlin

Hannover-BerlinHannover Hbf. Die S-Bahn hat mich vom Umland zurück in die Landeshauptstadt befördert - pünktlich, was erwarten Sie? Ich habe eine Bahn früher als nötig genommen, da ich für diese abschließende Etappe zurück nach Berlin keine Platzkarten habe (läppische anderthalb Stunden Zugfahrt) und ich mir die planmäßige Umsteigezeit von 6 Minuten nicht antun möchte. Von Gleis 2 zu Gleis 9 in der Vorweihnachtszeit - das ist kaum zu schaffen. Also bin ich eine Stunde früher am Bahnhof und bummele noch ein wenig durch die Bahnhofspassage. Hier eine Bratwurst, dort eine Zeitung, ein Blick in die Bahnhofsbuchhandlung. Eine knappe halbe Stunde vor Abfahrt suche ich allmählich den Bahnsteig auf, da ich meinen sündhaft teuren Schwarztee im eleganten Pappbecher lieber an der frischen Luft statt im überheizten Geschäftsgewimmel genießen möchte. Alles sieht normal aus. Kaum Wartende auf der Plattform, die Anzeigetafeln vermelden die kommende Ankunft meines ICE. Ich richte mich in einer Nische der schicken neuen Glasfassaden ein und lehne mich entspannt ans Geländer - und lasse fast den Pappbecher fallen. Denn die Fahrplananzeige hat in Teilen gerade in verdächtiges Hellrot gewechselt: Im selben Moment - diesmal mit der Stimme eines männlichen Praktikanten, der sich offenbar gerade eben erst an seiner Zigarette verschluckt hat - setzt die Lautsprecherdurchsage an: mit bedeutungsschwangerem Unterton wird verkündet, dass sich ICE 653 nach Berlin um mindestens (dieses Wort wird betonend eigenartig in die Länge gezogen) 60 Minuten verspäten wird.

Es bleibt also ein wenig Zeit, um sich umzuschauen: als erstes fällt wieder einmal auf, was passiert, wenn die eine Hand nicht weiß, was die andere tut, bzw. was passiert, wenn man die Kompetenzen eines ehemaligen Großbetriebs auf verschiedene Tochterfirmen überträgt: für Bahnhöfe zeichnete die "DB-Station&Service" verantwortlich, für die Züge die "DB-Reise&Touristik". Letzere haben sich irgendwann dafür entschieden, alle Züge außer den Fernbahnen in knalligem rot zu streichen (angeblich aus historischen Gründen, aber das Rot der alten Reichsbahn war ein elegantes Weinrot, nicht dieses aktuell aufdringliche, explosionsnahe Hochrot) - auf den Bahnhöfen dagegen hat man für die Anzeigetafeln, Schilder und Bahnhofsuhren ein modernes, violettstichiges Blau gewählt. Dass sich diese beiden Farbtöne aufs Schärfste beißen und es ein besseres Beispiel für spektrale Disharmonie wohl kaum geben wird, ist seit über zehn Jahren offenbar niemandem aufgefallen. Versuchen Sie daher nie, auf ein Schild zu sehen, wenn daneben gerade eine Regionalbahn hält - ein bleibender Augenschaden ist unvermeidlich. Da fällt kaum noch ins Gewicht, dass man die schicken blauen InterRegios nun auch weiß angemalt hat und mit diesem hässlichen roten Streifen versehen nun als Intercitys fahren lässt - es sieht oftmals einfach nur noch dreckig aus.


Intercity
deutsche Eisenbahn in Erdbeer-Vanille


Kurz darauf bittet eine weibliche Computerstimme noch einmal um Entschuldigung für die Verspätung. Na, wenigstens ein kleiner Lichtblick. Sonst wird man immer nur um "Verständnis" gebeten - ohne jedoch dazuzusagen, wofür eigentlich. Das machte auf Dauer richtig aggressiv. Aber ein um "Entschuldigung" bittendes ehemaliges Staatsunternehmen - das hat doch was. Es wird besser in der Servicewüste Deutschland. Allerdings wiederholt die Bandstimme das Ganze auch noch einmal auf Englisch. Bin ich eigentlich wirklich in Hannover...? Die auch neben mir wartenden Japaner müssen sich wohl auch gerade gefragt haben, ob sie nicht ausversehen in London ausgestiegen sind, wie ich an ihren Gesichtern erkenne.

Ich klammere mich fester an den Pappbecher und verfluche mich, weil ich es doch besser hätte wissen sollen: Grundregel Nummer 2 (nach Grundregel Nr. 1, am besten nicht Bahn zu fahren) lautete doch: Nehme nie einen Zug zu früh, nur um Deine Anschlüsse zu erreichen, die dann doch wieder verspätet sind. Neben mir heult eine Frau in ihr Funktelefon, dass sie nun gar nicht mehr wisse, wie sie vor dem Morgengrauen nach Cottbus kommen solle.

Doch die Rettung naht: nach kurzer Zeit verkündet selbiger Praktikant mit nun noch entschlossenerer Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden scheint, dass die nächste Möglichkeit, nach Berlin zu kommen, ein gleich einfahrender InterCity sei. Nach einem kritischen Blick auf den aushängenden Fahrplan stelle ich fest, dass mein ICE trotz Verspätung immer noch früher in Berlin wäre als die soeben empfohlene Ausweichverbindung. Der IC fährt ein. Doch ich habe mich schon entschieden, zu warten. Immerhin habe für die Fahrt im teureren ICE bezahlt und der Blick ins Innere des InterCitys bestärkt mich, dort nicht freiwillig einzusteigen - überquellende Gänge und Abteile. Der IC fährt ohne mich nach Berlin.

Kurz nachdem er weg ist, meldet sich wieder der altbekannte Laut-Sprecher: ICE 653 würde nun doch nicht 60 Minuten später kommen, sondern gleich auf dem Nachbargleis einfahren, d.h. nur 40 Minuten zu spät sein. Tolle Organisation. Wenn das Beschleunigen von verpäteten Zügen mal immer so einfach funktionieren würde. Ich muss an eine Situation anno 1999 denken, als ich in Helmstedt auf einen Zug wartete, der sich laut Anzeige 120 Minuten verspäten sollte - und dann doch schon nach einer Stunde fuhr - natürlich ohne mich, da ich zu der Zeit gerade noch eine Tasse Kaffee trank. Wer wartet schon im Winter zwei Stunden auf einem Bahnsteig? Zwischenergebnis: Statt 2 Stunden Wartezeit letztendlich 4 Stunden, bis der nächste Zug fuhr.


Bahnhof
Helmstedter Bahnhof


Nun aber fährt endlich mein ICE ein. Der Zug bleibt genau so stehen, dass sich direkt vor mir eine Tür befindet. Niemand steigt aus, aber links und rechts von mir stürmen bereits zu allem entschlossene Mitreisende auf mich zu. Eine Frau ruft ihrem Begleiter zu, als ob es um die letzen Plätze in einem Rettunsboot der Titanic ginge: "Geh Du nach rechts, ich schaue links!!!" und stürmt an mir vorbei in den Waggon, während ich es in der Zeit gerade einmal schaffe, meine Reisetasche vom Boden aufzuklauben. Ich erahne das Übel und steuere statt der gerammelt vollen Wagen, mit in den Gängen hockenden Passagieren, lieber zielgerichtet den Raucherwaggon an. Von dort kommt mir die Frau entgegen, die mich eben noch überholt hat und die nun durch den Gang zurück brüllt "Neeeeee, das is' Raucher!" und sich zurück Richtung Menschenknäuel schiebt. Ich wünsche in Gedanken viel Spaß bei der Platzsuche.

Im Raucherwaggon sitzen nur vier Personen. Keiner raucht. Ich nehme einen ganzen Vierertisch in Beschlag, breite mich dort gemütlich aus und beginne an diesem Artikel zu schreiben, da in diesem Zug das erste Mal eine Steckdose für meinen Rechner am Platz vorhanden ist. Entspannt geht die Fahrt Richtung Berlin. Was wohl gerade die Feuerwehr im Zug Richtung Hamburg löscht...? Kurz vor Spandau zündet sich jemand noch eine Zigarette an, aber deren Rauch erreicht mich nicht mehr. In Genugtuung schwelgend aber völlig am Ende steige ich am Bahnhof Zoo aus und nehme mir in fester Tradition vor, nie wieder Bahn zu fahren. Fortsetzung folgt.




Artikel vom 16.12.2003
letzte Änderung am 18.3.2007

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